Boom der TelemedizinVideo-Chat statt Wartezimmer
Stand: 15.04.2020 10:44 Uhr
In der Corona-Krise boomt die Telemedizin: Immer mehr Ärzte bieten Videosprechstunden an, Software, die lange Ladenhüter war, ist plötzlich gefragt. Doch die virtuelle Sprechstunde hat Grenzen.
Von Axel John und Christian Kretschmer, SWR
Julia Waldorf schaut ihre Patientin prüfend an. Dabei sitzt die Ärztin aus Neuwied in Rheinland-Pfalz ganz allein in ihrer Praxis. Die Patientin schildert der Medizinerin detailliert ihre Krankheitssymptome – über den Computer-Bildschirm.
„Ich fühle mich seit einigen Tagen nicht gut. Ich habe Halsweh und Kopfschmerzen“, erzählt die junge Frau. „Wenn Sie kein Fieber haben, brauchen Sie sich erstmal keine Sorgen zu machen“, beruhigt Julia Waldorf sie. „Ich verschreibe Ihnen etwas gegen die Schmerzen.“ Die Patientin nickt. Sie möchte sich die nächsten Tage wieder in der Videosprechstunde melden.
Programme lange ein Ladenhüter
Julia Waldorf benutzt seit Anfang April ein neues Programm, das ihr Online-Gespräche mit ihren Patienten ermöglicht. Als Doktor auf Distanz will sie die Corona-Ansteckungsgefahr in ihrer Praxis senken. Zunächst sei sie sehr skeptisch gewesen, erzählt sie. „Aber inzwischen bin ich von dem System überzeugt. Es wird auch von den Patienten gut angenommen. Auch die Älteren zeigen immer mehr Interesse.“
Das Programm hat „CompuGroup Medical“ in Koblenz entwickelt. Es ist eines von vielen Unternehmen, die Software-Lösungen im Medizin-Bereich anbieten. Dabei lag das Programm, das auch Ärztin Waldorf benutzt, schon seit Jahren als Ladenhüter in der digitalen Schublade der Entwickler. Obwohl es kostenlos ist, wollten es bis Anfang März kaum Praxen haben. Corona hat auch hier alles geändert. Inzwischen nutzen es allein in Deutschland mehr als 24.000 Praxen.
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tagesthemen 22:35 Uhr, 15.04.2020, Axel John, SWR
Mehr als 20 Anbieter auf dem Markt
Und auch die Zahl der Anbieter von Videodiensten für Ärzte und Patienten steigt rapide an. Mehr als 20 Unternehmen haben sich derzeit bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung registriert, vor einem Monat sei es noch etwa die Hälfte gewesen, heißt es dort.
Allerdings gibt es Auflagen für das sensible Gespräch zwischen Arzt und Patient. So muss eine Zertifizierungsstelle die eingesetzte Software juristisch und technisch prüfen. Etwa, ob Datenschutzstandards eingehalten werden, und ob das Videogespräch verschlüsselt übertragen wird. Ist das der Fall, bekommen die Software-Anbieter einen zwei Jahre lang gültigen „Prüfnachweis“.
Auch die Gutachter berichten von einem Boom der Videodienste. „Im Moment sind um die zehn weitere Anbieter bei uns in der Prüfung“, heißt es etwa vom Unternehmen „cert datenschutz“, das einen Großteil der Anbieter in Deutschland geprüft hat. In ein paar Wochen könnte es demnach rund 40 Mitbewerber auf dem Markt geben – alle mit ähnlichen Sicherheitsstandards.
Bei „CompuGroup Medical“ ist Datenschutz ein wichtiges Thema: Im Keller des Unternehmens müssen die Besucher schnell durch die Sicherheitsschleuse. Jede Tür ist alarmgesichert, denn hier ist das Rechenzentrum am Standort Koblenz. Auf riesigen Servern laufen die Anschlüsse der Arztpraxen zusammen. „Wir bauen die Geräte auch selbst“, sagt Firmenchef Frank Gotthard, „auch die Serverlandschaften. Die sind hier bei uns und werden auch nicht nach außen gegeben. So haben wir die Kontrolle.“
Gesetzliche Vorgaben gelockert
Ärzte können ihre Videosprechstunden inzwischen auch uneingeschränkt abrechnen. Das haben die Kassenärztliche Vereinigung und die Gesetzlichen Krankenkassen entschieden. Bislang war es Ärzten nur erlaubt, 20 Prozent ihrer Patienten online zu beraten. Dabei war die Diagnose über Videoanrufe in Deutschland lange überhaupt nicht erlaubt. Erst vor zwei Jahren wurde das entsprechende Gesetz gelockert.
Der Chef der Kassenärzte, Andreas Gassen, sieht ebenfalls viele Chancen durch die Telemedizin. An vielen Strukturproblemen ändere aber auch die neue Technik nichts. Der Arzt müsse sich auch am Bildschirm Zeit für den Patienten nehmen. Es könnten also nicht mehr Termine vergeben werden.
Und: Bevor Arzt und Patient digital ins Gespräch kommen können, müssten erst die technischen Voraussetzungen geschaffen werden. „Die digitale Infrastruktur ist auf dem Land sicher schlecht. Der Netzausbau lässt zu wünschen übrig“, dämpft Gassen Hoffnungen, die Videosprechstunde könne auf dem Land in nächster Zeit den Ärztemangel lindern.
„Persönliche Zuwendung nicht aufgeben“
Auch die Anwendungsmöglichkeiten sind begrenzt. Für Nachkontrollen könnten Ärzte auf Distanz sein, sagt Gassen. Für eine richtige Untersuchung müssten sie den Patienten aber in der Praxis haben. „Sie müssen ihn anfassen, untersuchen und müssen ihn wirklich vor Ort haben.“
Patientenschützer sehen das ähnlich und betonen zugleich Risiken – etwa, dass Ärzte durch die Möglichkeit der Videosprechstunde weniger Hausbesuche durchführen. „Es darf nicht sein, dass sich dann noch mehr Ärzte aus der Face-to-Face-Behandlung zurückziehen“, sagt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
„Wir sehen großes Potential in der Telemedizin, Videosprechstunden sind aber kein Allheilmittel“, sagte Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. „Die persönliche, ärztliche Zuwendung ist ein auch wichtiger Teil des Heilungsprozesses, den wir nicht grundsätzlich aufgeben sollten.“
Ergänzung, aber kein Ersatz
In Neuwied hat Hausärztin Waldorf für heute ihre Videosprechstunden gemacht. Trotz der neuen Möglichkeiten setzt sie auch in Zukunft weiter auf ihren bewährten Arbeitsalltag als Ärztin. „Ich glaube, dass es für die Patienten einfacher ist, über viele Dinge zu sprechen, wenn man im gleichen Raum ist“, erzählt sie, während sie sich die Arzttasche umhängt und zu ihrem Auto eilt.
Jetzt stehen Hausbesuche an. Für diese sind Videosprechstunden im Arztalltag eine gute Ergänzung, aber kein Ersatz.